Willkommen
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„Menschen mit Behinderungen – Versuch einer gesellschaftlichen Standortbestimmung“

Festansprache aus Anlass 25 Jahre Behinderten-Begegnungsstätte Osterburken (BBO) und 20 Jahre Förderverein BBO e.V. am 10. Oktober 2009

Liebe Festgäste,

meine Damen und Herren,

liebe Freunde,

 

es ist für mich eine Ehre, die beiden Jubiläen „25 Jahre Behinderten-Begegnungsstätte Osterburken (BBO)“ und „20 Jahre Förderverein BBO e.V.“ mit einer Festrede begleiten zu dürfen, um die mich Werner Sabelhaus – bereits vor Jahresfrist – gebeten hat.

 

Wie ich zu dieser Ehre gekommen bin, mag er Ihnen selber berichten. Ich habe die Einladung – ich sollte besser sagen: diese Herausforderung – jedenfalls gerne angenommen und hoffe, die daran geknüpften Erwartungen zu erfüllen – inhaltlich und zeitlich.

 

Klassischerweise ist so ein Vortrag dreigeteilt: Er beginnt mit einem geschichtlichen Überblick,
dann folgt dessen Würdigung und schließlich werden daraus gezogene Schlussfolgerungen versucht.

 

Im Wesentlichen will ich mich daran halten, aber eben nur im Wesentlichen. Im Mittelpunkt stehen in der Konsequenz des von mir gewählten Ansatzes nicht viele kluge Zitate von vielen klugen Leuten – die Behindertenthematik gibt dazu vieles her – sondern eher persönliches Erleben und daraus gewonnene Erkenntnisse.

 

Zu diesen Erkenntnissen gehört zu allererst, dass die 3 Buchstaben „BBO“ zu einem weit über die Grenzen unserer Region bekannt gewordenen Synonym für engagierte und erfolgreiche Behindertenarbeit – ich will diesen eher bürokratischen Begriff zunächst einmal so stehen lassen – geworden sind.

 

Sowas kann man nicht planen, vielleicht und allenfalls sehr rudimentär organisieren. Der Ruf wurde erworben, weil viele Leute aller sozialen Herkunft, aller Bildungsstände, aller Religionen und politischen Denkart bereit waren und noch immer sind, sich um Menschen zu kümmern, die eine vom Erwartungsstandard abweichende Normalität unseres Lebens sind. – Das ist mein Versuch, dem Begriff der Behinderung einen mir geeigneten Inhalt zu geben.

 

Diese 3 Buchstaben „BBO“, einmal in Verbindung mit „Begegnungsstätte“, einmal in Verbindung mit „Förderverein“, gibt es 25 bzw. 20 Jahre. Und das, meine Damen und Herren, ist Grund

  • für Gratulation,
  • für Dank
  • für Glückwünsche,
  • und für Ermunterungen.

Ich nehme mir heraus, mich zum Sprecher der erschienenen Gäste und der Menschen unseres
Raumes zu machen und

  • herzlich zu gratulieren,
  • herzlich Dank zu sagen,
  • Glück für die weitere Arbeit für Menschen mit Behinderungen zu wünschen
  • und zu ermuntern, im vorzüglichen Engagement nicht nachzulassen.

 

Und da sowas mit handelnden Menschen zu tun hat, will ich stellvertretend für alle, die in den zu feiernden 25 bzw. 20 Jahren in und für die BBO-Arbeit eingebunden waren und weiter sind, Werner Sabelhaus nennen.

 

Du, lieber Werner – viele Leute um Dich rum wären zu nennen – bist BBO. Und, liebe Freunde, einer inzwischen soziologisch gewordenen Floskel folgend, möchte ich Deine Verdienste zum Anlass für den Wunsch nehmen: „Wir sind BBO!“

 

Was für ein langer Weg von Eigenüberzeugung, Eigeninitiative und Fremdüberzeugung war
zurückzulegen, bis der BBO-Arbeit der Durchbruch zum Erfolg und zur öffentlichen Anerkennung gelungen ist.

 

Er ist im Ansatz mit der unendlich langen Zeit vergleichbar, bis Menschen mit Behinderung
als gleichberechtigte Brüder und Schwestern erkannt worden sind, wovon es nach
UN-Schätzungen 650 Mio auf der Welt und rund 5,5 Mio in Deutschland gibt. (Ich
lasse an dieser Stelle außen vor, welches die statistischen Kriterien zur Feststellung dieser Zahlen sind.)
„Idioten“ und „Krüppel“ wurden sie genannt. Sie wurden als von bösen Geistern und vom Teufel besessen bezeichnet. Sie wurden auf Jahrmärkten gezeigt und wurden mit
exorzistischen Methoden behandelt. Sie waren stigmatisiert und wurden versteckt.

 

Vor etwa 300 Jahren kamen in unseren Landen Gedanken auf, dass man Blinden und
Taubstummen, dann Körperbehinderten schließlich Kriegsbehinderten helfen sollte. Vor etwa 100 Jahren – ich wähle bewusst und Unschärfen riskierend globale Zeitangaben – gab es erste „Irrenanstalten“.

 

Kirchliche und andere Sozialeinrichtungen haben bereits im 19. Jahrhundert erkannt, dass
Fürsorge und Hilfen angesagt sind. Sie wurden in unterschiedlicher Weise eingerichtet und gewährt und sind verdienstvolle Vorläufer von Diakonie und Caritas – und der BBO.

 

Ein dunkles Kapitel unserer Geschichte wurde 1920 mit einer, mit wissenschaftlichem
Anspruch verfassten, Schrift aufgeschlagen, die den Titel trägt: „Die Freigabe
der Vernichtung lebensunwerten Lebens". Die Autoren, Karl Binding (Professor für Psychiatrie in Freiburg) und Alfred E. Hoche (Jura-Professor, Strafrechtler in Freiburg und Leipzig), Anhänger des nach dem verloren gegangenen 1. Weltkrieg verbreiteten Materialismus, der Werte nach Nützlichkeit beurteilt, schrieben über geistig Behinderte (Zitat): “Ihr Leben ist absolut zwecklos, aber sie empfinden es nicht als unerträglich. Für ihre Angehörigen wie für die Gesellschaft bilden sie eine furchtbar schwere Belastung. Ihr Tod reißt nicht die geringste Lücke ...

 

Es ist eine peinliche Vorstellung, daß ganze Generationen von Pflegern neben diesen leeren Menschenhülsen dahinaltern, von denen nicht wenige 70 Jahre und älter werden. Die Frage, ob der für diese Kategorien von Ballastexistenzen notwendige Aufwand nach allen Richtungen hin gerechtfertigt sei, war in den verflossenen Zeiten des Wohlstandes nicht dringend; jetzt ist es anders geworden, und wir müssen uns ernstlich mit ihr beschäftigen. … Unsere deutsche
Aufgabe wird für lange Zeit sein: eine bis zum höchsten gesteigerte Leistungsfähigkeit
..."

 

Der eine Autor – Hoche – nahm sich 1943 das Leben, der andere – Binding – starb 79jährig
im Erscheinungsjahr des Buchs. Beide legten das Theorie-Fundament für die allerfurchtbarste Euthanasiepolitik der Nazizeit, vom “Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses” 1933, über das Sterilisationsgesetz 1934, bis zum “T4-Programm”. Es graut einen und man mag verzweifeln, wozu Menschen - Politiker - fähig sind.

 

Freilich gab es – vor allem in kirchlichen Kreisen – zum Teil massiven Protest. Bischof
Galen sei stellvertretend genannt. Er bewirkte ein Stück weit Umkehr. 
Nach dem
Niedergang des Nationalsozialismus fand in Deutschland und im aufgeklärten Teil der Welt eine Besinnung darauf statt, dass Behinderung einen neuen Stellenwert bekommen muss – in der Gesellschaft und in der Politik.

 

Die Besinnung fand – vereinfacht gesagt – auf drei Ebenen statt:

  • im karitativ/sozialen Bereich
  • im politischen, in der Konsequenz: im administrativen Bereich
  • im gesellschaftlichen Bereich

 

Zum karitativ/sozialen Bereich:

Die Kirchen – im Prinzip alle – bauten ihre zum Teil zerstörten oder
heruntergekommenen Behindertenstätten aus und schufen zum Teil moderne
Einrichtungen, gekoppelt mit Ausbildungsstätten für qualifiziertes Personal und
professionell geführten Werkstätten für die unterschiedlichsten Arten von
Behinderung.

 

Ich stehe nicht an – gestatten Sie bitte einen kleinen Exkurs - die zum Teil sehr großen,
zumindest für den Außenstehenden nicht immer völlig durchschaubaren
„Behindertenunternehmen“ insoweit eines kritischen Blickes zu würdigen, als ihnen alles anhängt, was allen großen Betrieben Probleme bereiten:Personalapparate (Stichwort Parkinson:
<Gesetz>: Es gibt Arbeit um ihrer selbst willen),
Tarifierung, Budgetierung und spezifisch: Spannung zwischen Haupt- und Ehrenamt.

 

Aber, zurück zur Sache: In der Summe wird hier wertvollste Arbeit für Menschen mit
Behinderung erbracht, rund um die Uhr, Jahr für Jahr. – Im eher übersichtlichen
Bereich nenne ich in diesem Kontext 25 Jahre BBO.

 

Zum politisch/administrativen Bereich

Ganz oben steht Artikel 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland:
„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“. – Entstehungsjahr 1948/49.

 

Zwar hat es bis Mai 2002 gedauert, bis es verabschiedet wurde, es ist aber dennoch ein
Meilenstein in der deutschen Politik für Menschen mit Behinderung:
Das Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen. Es findet als Universalgesetz für alles, was mit Behinderten zu tun hat, noch immer weltweite Beachtung, auch der in diesem Gesetz begründete Beauftragte
der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen.

 

Als juristischer Laie würdige ich das Gesetz als erfolgreichen Versuch, ein Gesetz, das Menschen mit Behinderungen zum Gegenstand hat, nicht primär als Gesetz zur Bestimmung von Regelungsansprüchen zu sehen. - Es bekennt sich zur Verantwortung für Behinderte.

 

Und natürlich gehört das Neunte Buch Sozialgesetzbuch „Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“ mit in die Betrachtung. Hier finden dann Definitionen statt, Ansprüche und ihre Rechtfertigung, Ausweise und Ämter. Es ist ein Monstrum, aber wohl nötig.

 

Schließlich - und keineswegs zuletzt in der Bedeutung - muss das am 13. Dezember 2006 von
den Vereinten Nationen beschlossene „Übereinkommen über die Rechte von Menschen
mit Behinderungen“ erwähnt werden.
Es ist der erste Menschenrechtsvertrag der Menschheitsgeschichte zum Schutz und zur Stärkung der Rechte und Möglichkeiten von Menschen mit Behinderung. - Am 26. März 2009 trat diese UN-Behindertenrechtskonvention auch in Deutschland in Kraft.

 

Zum gesellschaftlichen Bereich

Wenn Politik als Reflexion der gesellschaftlichen Situation im Staatsganzen gesehen werden kann: (Bei gutem Willen, kann dies auch bei kritischer Betrachtungsweise unterstellt werden), trifft dies auf die Behindertenpolitik zu. – Da hat sich sehr Wesentliches und viel Positives getan.

 

Ist aber der Geist der UN- Behindertenrechtskonvention in unserer Gesellschaft
angekommen? – Die Kernfragestellungen, die sich aus den Kernaussagen ergeben:

  • Wird die Chancengleichheit behinderter Menschen gefördert und ihre Diskriminierung
    in der Gesellschaft unterbunden?
  • Können Menschen mit Behinderungen im vollen Umfang an der Gesellschaft teilhaben und dabei Autonomie und Unabhängigkeit wahren?
  • Werden diese Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt und der Menschheit gesehen
    und akzeptiert?
  • Haben wir die Menschen mit Behinderungen davon befreit, sich im Kontext von Fitness,
    Jugendlichkeit und permanenter Leistungsfähigkeit selbst als „defizitär“ sehen
    zu müssen?
  • Sehen wir sie als Quelle kultureller 
    Bereicherung?

Im Blick auf 25 Jahre BBO, 25 Jahre vorbildliches Engagement für Behinderte, will ich nicht kleinlich aufzählen, wie diese Grundfragen bei uns allen, die wir versammelt sind, in unserem sozialen Umfeld von Familie, über Verein bis zur Kommune, in der wir leben, beantwortet werden. Nehmen wir diese Fragen einfach als täglichen Spiegel unseres ganz alltäglichen Handelns, weg von Sonntagsreden und weg von großen Festivals, so wichtig sie sind.

 

Meine Damen und Herren,

ich will an dieser Stelle noch ganz persönliche Erlebnisse wiedergeben:

 

In den Johannesanstalten in Mosbach stellte man mir Mitte der 1980er Jahre als Mitglied des Landtags die Geschichte, die Philosophie, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die
Bewohner vor. Exemplarisch hat man mir einen etwa 50jährigen Mann gezeigt, ich
schätze etwa 150 cm groß, maximal 50 kg Gewicht, Zeit seines Lebens
bettlägerig, 24 Stunden am Tag auf Betreuung angewiesen, kommunikationsunfähig
– dachte ich, bis ich erläutert bekommen habe, dass es winzige Zeichen gibt,
die eindeutig Bedürfnisse artikulieren und Freude und Erregung sichtbar werden
lassen. – Schnell war die Frage, die ich mir insgeheim gestellt hatte: Lohnt
sich das wirklich? beantwortet.

 

Bei einer etwa 39jährigen Frau wurde mir in Schwarzach verdeutlicht, dass es jeden Monat
kleine Fortschritte gibt zur Teilnahme am Leben. Beispiel eine solchen
Fortschritts: die Bewegung eines Fingers, der ihrer Umgebung sagt, guck mich mal an.

Schließlich: Meine Nachbarin heißt Judith. Sie ist 25 Jahre alt und, wie das im
Bürokratendeutsch heißt, mehrfach geistig und körperlich behindert. Die seit
der Geburt Judiths unendlich liebevolle und bis zur eigenen physischen und
psychischen Schmerzgrenze gehende Hinwendung von Karl und Annemarie, ihren
Eltern, beeindruckt mich täglich. Ich habe meine Nachbarin Judith gern.

 

Solche persönlichen Erfahrungen machen reich.

 

Wenn Wissenschaftler fordern, den Begriff der „Integration“ von Behinderten durch
den Begriff der „Inklusion“ zu ersetzen, mag das richtig und wichtig sein. Aber
es stellen sich Tag für Tag ganz reale Fragen, die wir, liebe Freunde, und die
uns umgebende Welt zu beantworten haben:

  • Wie steht es um die Geschäftsfähigkeit behinderter Menschen?
  • Wie geht das, ihnen Rechtsdokumente in einer Sprache zu erklären, die sie
    verstehen?
  • Wie sieht es mit dem Wahlrecht aus`?
  • Wie ist geregelt, dass Schüler mit körperlichen oder geistigen Behinderungen in
    regulären Schulen sind?

Oder sehr grundsätzlich:

  • Wo laufen die Grenzen zwischen behindert und nicht behindert? (Das ist nicht nur
    eine Frage von Ausweisen und Berechtigungen!)
  • Wo verlaufen die Grenzen zwischen Krankheit und Gesundheit?
    (Wie richtig ist die Feststellung: Peter leidet unter dem Dow Syndrom? Leidet
    er wirklich? – Ich habe gerade in der BBO sehr ursprünglich fröhliche
    „Behinderte“ erlebt.)
  • Sind nicht auch jene Leute behindert, die ihre Lust an Sex und Saufen bis zum
    Kriminellen austoben?

 

Am Ende stellt sich menschliches Leben als Kontinuum zwischen normal und nicht normal
dar, bei dessen Standortbestimmung Werte eine zentrale Rolle spielen. - Werte,
die in der Erziehung, in Religion und ethischem Vorbild zu vermitteln sind.

 

Ich bin sehr froh darüber, dass auch die Medienwelt, ja selbst die
Unterhaltungsindustrie, Menschen mit Behinderungen in ihr Genre eingebunden
haben. Die Fernsehspots mit Frank Elstner und Thomas Gottschalk sind ebenso
beachtlich wie die Starrollen, die Bobby Brederlow, ein demnächst 50 Jahre
alter Mann mit Trisomie 21, in sehr bekannt gewordenen Filmen gespielt hat,
z.B. in „Tollpension“, einem deutschen Fernsehfilm aus dem Jahre 2006.

 

In diese Reihe positiver Meldungen gehört auch das Internationale Kurzfilmfestival
"Wie wir leben!", demnächst
vom 4. - 7. November 2009 im Filmmuseum München.

 

Und: Vor ein paar Wochen hatte Markus Lanz in seiner nächtlichen Talkrunde einen Popstar zu Gast, der seinen behinderten Bruder in die Sendung mitgebracht hatte und ihn liebevoll vorstellte und würdigte. - Ich fand das große Klasse.

 

Meine Damen und Herren,

liebe BBOler,

natürlich wäre eine Festrede zu einem Jubiläum einer Behinderteninitiative sehr viel
stärker mit kritischen Anmerkungen zur Lage der Menschen mit Behinderung in
unserer Zeit zu versehen, als ich das gemacht habe.

 

Nicht zuletzt am Beispiel der BBO wollte ich mit meinem „Versuch einer gesellschaftlichen Standortbestimmung“ darstellen, dass sich viel Positives entwickelt hat – zumindest in Deutschland.

 

Das heißt keineswegs, dass da nicht unendlich viel noch zu leisten ist. Der BBO und dem BBO-Förderverein bleibt ein Katalog von Aufgaben.

 

Unsere Gesellschaft braucht sowas wie die BBO. Die Satzung des Fördervereins spiegelt, was notwendig ist, Menschen mit Behinderung
als selbstverständlichen Bestandteil unseres Lebens zu sehen, sie so zu behandeln, sie in unseren Alltag zu „inkludieren“. –

 

Helfen wir miteinander, dass Kraft und Freude nicht nachlassen. Geteilte Freude ist doppelte Freude. - Nochmals herzlichen Glückwunsch und viel Erfolg eurer weiteren Arbeit!

 

 

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